5. April 2022

Die «unglaublichen» Erfahrungen von Olena Marina

Wenn jemand wie Olena Marina «unglaublich» sagt, ist das nicht einfach so dahingeredet. Olena Marina ist Sprachwissenschaftlerin. Und sie ist zusammen mit ihrer Mutter Liudmyla sowie ihrem sechsjährigen Sohn Mykhailo aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Und vor wenigen Tagen in Luzern angekommen.

Olena Marina (links im Bild) atmet nochmals tief durch und erzählt von der letzten Etappe ihrer langen, beschwerlichen, von Krankheit, von Angst und Ungewissheit geprägten Zug-Reise. Diese führt die 39-Jährige von Charkiw im Osten der Ukraine in deren zentrale und westliche Teile, danach unter anderem nach Kosice in der Slowakei, von wo es in vielen unterschiedlich langen Etappen weitergeht bis nach Zürich. Auf dem letzten Teilstück nach Luzern fragt aus dem Eisenbahnabteil gegenüber plötzlich ein Mann, ob sie Flüchtlinge aus der Ukraine seien. Ob sie eine Unterkunft hätten. Ob er helfen könne. Ob er sie bei sich zu Hause unterbringen dürfe.

«Unglaublich», sagt Olena Marina und ergänzt: «Der Mann kennt uns überhaupt nicht, hat keine Ahnung, was auf ihn zukommt, aber bietet uns an, in seinem Haus im Raum Zug zu wohnen, und gibt uns auch noch seine Handynummer für den Fall, dass…»

Olena Marina hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine Unterkunft und sogar Arbeit in Luzern gefunden. Sie hatte sich bei «Scholars at Risk» gemeldet, einer Organisation, die gefährdete Hochschulangehörige unterstützt und zu deren Mitgliedern auch die PH Luzern zählt. Dank Vermittlung von Stefanie Rinaldi und Dorothee Brovelli sowie Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) kann Dr. Olena Marina, Associate Professor of the Department of Practice of Oral and Written English at H.S. Skovoroda Kharkiv National Pedagogical University, nun ihr Forschungsprojekt «Identity Construction in the dramatic discourse of the English Restoration: a Cognitive-pragmatic perspective» weiterführen.

«Absolut unglaublich» sei diese Entwicklung von Ende März/Anfang April, sagt Olena Marina. «Ich kann der Familie Brovelli, Stefanie Rinaldi und der gesamten PH Luzern mit Rektorin Kathrin Krammer gar nicht genug danken. Ich habe auf der Website der PH Luzern ja gesehen, welch wichtige Funktionen sie ausüben. Trotzdem nehmen sie sich viel Zeit und unterstützen uns derart. Auch was die Schweizer Regierung, die Behörden der Stadt Luzern und ganz viele Leute in diesem Land tun für die Menschen aus der Ukraine, lässt sich kaum in Worte fassen.» Und nach einem Moment der Stille fügt sie an: «Vor wenigen Wochen wurde uns das Leben entrissen, wir waren verzweifelt, ich wollte nur das Leben des kleinen Misha (Rufname ihres Sohns) retten, und jetzt haben wir so viel Grund zu Zufriedenheit, zu Zuversicht und ganz besonders zu Dankbarkeit.»

Olena Marina erzählt, wie Raketeneinschläge (bei militärischen Arsenalen in der Nähe), sie um fünf Uhr morgens aus dem Schlaf rissen und in Schutzkeller, in Metro-Stationen und Auffanglager trieben. «Wir hatten schon mitbekommen, dass die seit Jahren anhaltenden Konflikte in gewissen Regionen des Landes eskalierten. Die Medien berichteten ja seit Monaten regelmässig darüber, aber wir hielten nicht für möglich, dass es zu diesem Krieg kommen würde – nicht einmal als verschiedene Unternehmen ihre Leute aus unserer Region abzogen oder die Kinder in der Schule das Evakuieren übten.»

«Unglaubliches Glück» hätten sie gehabt, dass ein Bekannter sie und eine weitere Mutter mit Kind aus der Stadt fahren konnte, als die Strassen noch nicht hoffnungslos verstopft waren. Trotzdem führte die Flucht gegen Westen erstmal in kalte Keller, wo viele Menschen erkrankten; in windige Bahnhöfe, wo Züge erst kurz vor Ein- und Weiterfahrt angekündigt wurden; in überfüllte Schutzräume, wo die Leute bei Sirenenalarm Schutz suchten und stundenlang im Dunkeln bleiben mussten, oft ohne Trinkwasser und Nahrung.

Olena Marina staunt bei einem Zwischenstopp in der Slowakei, als sie abends Stimmen hört auf den Strassen. Und Geschäfte sieht mit gefüllten Regalen. «Jugendliche waren unterwegs, machten Party. Und wir konnten gar ein paar neue Kleider kaufen. Schliesslich hatten wir alles zurückgelassen, aber in meiner Tasche waren wegen einer kurz vorher durchgeführten ärztlichen Untersuchung im Spital noch Pass, ID und Portemonnaie. So kamen wir über die Runden – und dank Hilfe einer Landsfrau in Zürich in die Schweiz. Sie sagte uns: Das ist der sicherste Platz der Welt.»

«Unglaubliche Hilfsbereitschaft» erfahren sie überall, sagt Olena Marina. Sie denkt dabei an die komfortable Wohnsituation bei der Familie Brovelli, von wo aus Misha ukrainischen Online-Unterricht fast wie während der Corona-Pandemie besuchen und ihre Mutter weiterhin Musikunterricht erteilen kann. Sie denkt auch an die Lego-Teile, welche ihr Sohn geschenkt bekommen hat, ans Akkordeon, das für ihre Mutter organisiert worden ist. Und sie weiss schon jetzt, dass sie die neuen PH-Kolleginnen «nie enttäuschen» will. Ihr SNF-Projekt ist auf die Dauer von einem Jahr angelegt. Was in jener Zeit in ihrer Heimat passiert, ist derzeit höchst ungewiss. Ein Symbol für diese Ungewissheit sind die russischen Raketen, die sich beim Kinderspielplatz gleich neben ihrem Haus in die gefrorene Erde gebohrt haben und von denen niemand weiss, ob sie noch scharf sind.

Olena Marina greift nach ihrem Handy und zeigt die entsprechenden Fotos, die ihr eine Nachbarin geschickt hat. Man sieht die Raketen unmittelbar neben Kinderspielwaren im Boden stecken. Und denkt nur: unglaublich.


Kontakt

Leiter Stabsabteilung Kommunikation und Marketing
Marco von Ah
Pfistergasse 20
6003 Luzern
marco.vonah@phlu.ch
Portrait
spacer